Werden wie ein Kind
Autor: Amelie Rick | 24.06.2025

Was zählt heute eigentlich noch, damit man in unserer Gesellschaft als jemand Wichtiges gilt? Der Lebenslauf? Das Instagram-Profil und die Followerzahl? Oder doch eher die Liste aller Zertifikate, die man so im Laufe seines Lebens sammeln konnte? Im Angebot wären da auch noch der optimale Body-Maß-Index, der Kontostand, der umweltfreundliche ökologische Fußabdruck und vieles mehr… Ja, wer bestimmt denn nun, welche Person besonders wichtig ist und welche nicht? Wer legt ihren Wert fest? Wer legt unseren Wert fest?
Schauen wir uns in unserer Welt einmal um, dann könnte man tatsächlich meinen, sie stehe Kopf. Denn statt auf das Innere des Menschen zu sehen – auf seine gottgegebene Würde-, lassen wir uns doch allzu oft von der äußeren Hülle blenden und beeindrucken. Und versuchen, uns selbst darin zu kleiden. Ganz nach dem Motto „Kleider machen Leute“ werkeln viele von uns gerne an ihrer Außendarstellung herum und verlieren dabei eines: sich selbst.
Denn während wir nach Bestätigung im Außen streben, unsere Hülle aufpolieren und versuchen, den Maßstäben der Welt zu entsprechen, machen wir uns eins mit ihren Werten. Mit diesem Höher, Schneller, Weiter, dem Getriebensein, dem unendlichen Karussell des Vergleichens, der Hetze, des Stress‘, des Leistungsdrucks und der nie enden wollenden Suche nach… Ja, nach was denn? Vielleicht nach Ankommen? Nach Sein-Dürfen? Nach Lockerlassen und einfach mal Durchatmen? Nach jemandem oder etwas, das uns zuspricht: „Du bist genug. Du bist wertvoll.“? Ja, vielleicht ist es das, was uns eigentlich antreibt.
Und vielleicht war es auch genau das, was die Jünger Jesu beschäftigte, als sie an ihren Meister herantraten, um Ihn zu fragen, welcher Mensch der größte im Himmelreich sei. Wahrscheinlich erwarteten sie eine Antwort, die das Pendant zur heutigen Followerschaft bei Instagram darstellte oder einen Body-Maß-Index für geistliches Wissen. Doch Jesus antwortete ganz anders. Denn Er erkannte die Sehnsucht Seiner Freunde hinter ihrer Frage. Ihre Sehnsucht nach Gesehen-Werden, nach Sein-Dürfen, nach jemandem, der ihren Wert als gut genug befand und ihnen damit inneren Frieden schenkte. Und so rief Er ein Kind zu sich, stellte es in ihre Mitte und sprach: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich.“ (Matthäus 18; 3-4)
Was wohl in den Köpfen der Jünger in diesem Moment vor sich ging? Vielleicht fragten sie sich irritiert, ob das gerade wirklich Jesus‘ Ernst war. Sie sollten werden wie ein Kind? Also bedürftig und schwach? Abhängig von jemandem, der ihnen Schutz gab? Naiv vertrauend in eine andere Person, die sie versorgte? Sie sollten all das aktiv ablegen, was doch ihre größte Sicherheit war? Eine Rückwärtsbewegung hin zum Kind machen? Aus dem Erwachsensein heraustreten und all ihre Erfolge, all ihr Ansehen, all ihre guten Taten, all ihr Wissen nicht mehr als identitätsstiftend betrachten? Wer waren sie denn dann noch?
Doch Jesus wusste ganz genau, was Er tat, als Er dieses Kind in ihre Mitte stellte: Er durchbrach eine ganz bestimmte Denkweise. Eine Denkweise, die uns heute immer noch allzu gut vertraut ist. Er durchbrach sie mit einer Einladung, die es in sich hatte. Denn Jesus wusste: Wenn sich die Jünger auf das Wesen des Kindes in ihnen einließen, würden sie damit ihre selbst gebauten Schutz- und Versorgungspanzer, ihre über die Jahre antrainierten, im Außen definierten Wertesysteme und damit ihre innere Sicherheit aufgeben. Kurz: Sie würden sich aktiv herausbegeben aus dem vertrauten Hamsterrad, das sich ihr Leben nannte. Kein Wunder also, dass die Jünger von den Taten und Worten Jesu erst einmal überrascht waren. Und doch gab ihr Meister durch Seine praktische Einladung die Antwort, die sie wirklich brauchten. Es war eine Einladung in eine neue Identität. In die Identität der Kindschaft, die sie unter den Schutz des himmlischen Vaters stellte, der ihr Inneres als wertvoll ansah und ihnen genau dort begegnen wollte…
Jesus‘ Einladung gilt auch heute noch. Für jeden von uns. Und sie hat auch heute noch das Potenzial, unser Leben auf den Kopf zu stellen. Doch vielleicht lebt es sich mit dieser Lebensperspektive ja gar nicht so schlecht? Gehen wir diesem Perspektivwechsel doch einmal ein wenig nach:
Was wäre das für ein Leben, in dem kindliche Leichtigkeit und Urvertrauen in einen himmlischen Vater herrschte, der uns zu sehr liebt, als dass Er uns nicht versorgen und tragen würde? Was wäre das für ein Leben, wenn wir einfach nur sein könnten? Ganz versunken in unser tägliches Tun, das wir nun genießen und frei weiterentwickeln dürften, weil wir das Bewusstsein des Erreichten bereits ins uns trügen? Ganz ohne die Angst vor Versagen. Was wäre, wenn wir Kind sein könnten? Einfach Kind. Verletzlich, offen, neugierig, abenteuerlustig, vertrauend, entdeckend, lebensfroh, alle Zeit der Welt habend und an das Gute glaubend. Versorgt, geliebt, getragen und geschützt.
Wir wollen heute Mut machen, sich dieser Sehnsucht des inneren Kindes neu zu stellen und ihr Raum zu geben. Denn in ihr wartet ein Vater auf uns, der uns gerne einfach nur in Seine Arme schließen möchte. Und von dort aus kann es sich leben lassen…
„Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist Mensch.“ (Erich Kästner)
„Die Kinder kennen weder Vergangenheit noch Zukunft. Und – was uns Erwachsenen kaum passieren kann – sie genießen die Gegenwart.“ (Jean de la Bruyere)
„Die großen Leute verstehen nie etwas von selbst. Für die Kinder ist es zu mühsam, ihnen immer wieder alles erklären zu müssen.“ (Antoine de Saint-Exupéry)
„Wenn wir ganz und gar aufgehört haben Kinder zu sein, dann sind wir schon tot.“ (Michael Ende)
„Man darf nicht verlernen, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen.“ (Henri Matisse)
„Als Kind ist jeder ein Künstler. Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener einer zu bleiben.“ (Pablo Picasso)
„Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes.“ (Bibel, Markus 10; 14)