Der Biegsame
Autor: Amelie Rick | 20.05.2020
“Einen Sturm übersteht der Biegsame am besten.“ Dieser Spruch aus Japan hat es in sich. Er ist herausfordernd. Denn in unserer Gesellschaft wird viel Wert darauf gelegt, stets stark und fest zu sein. Weil wir damit Unerschütterlichkeit und Standhaftigkeit in Verbindung bringen. Doch was ist, wenn Biegsamkeit der einzige Weg ist, um nicht von den Stürmen des Lebens entzwei gebrochen zu werden?
Es gibt immer wieder Umstände im Leben, die die Anpassungsfähigkeit von uns Menschen in höchstem Maße fordern. Umstände, die einen, wenn man in alten Verhaltens- und Gedankenmustern haften bleibt und eine Anpassung an die Herausforderungen verweigert, in die Knie zwingen können. Genauso sind es aber auch Umstände, die die Chance in sich bergen, uns neue Erkenntnisse über das Leben zu offenbaren, uns selbst besser kennen zu lernen und uns in unserer Persönlichkeit wachsen zu lassen.
Diese Lebenseinstellung der Biegsamkeit, die den Stürmen des Lebens nicht mit der Aussage begegnet „Du kriegst mich nicht klein.“, sondern mit der Frage „Was kann ich aus Dir lernen?“ ist eine grundlegende. Und sie fordert einiges von uns: Mut, Fragen zu stellen und sich selbst in Frage stellen zu lassen. Offenheit gegenüber Gedankengängen, die wir so vielleicht vorher noch nie hatten. Eine Anpassung an Umstände, die wir eigentlich vermeiden wollten. Doch diese Verwundbarkeit, der wir uns somit ausliefern, trägt eine ungeheure Kraft in sich: Die Kraft der Erkenntnis, der inneren Heilung und der Stärke, die sich dadurch auszeichnet, das sie Tiefgang hat und mit jedem weiteren Lebenssturm an Weisheit und Überlebensfähigkeit hinzugewinnt.
Die Analogie des Baumes kann uns dabei helfen zu verstehen, wie hilfreich Biegsamkeit im Leben sein kann. Denn diese Eigenschaft hat weder etwas mit Schwäche noch mit Unsicherheit zu tun. Sie hat etwas mit einer besonderen Fähigkeit zu tun, die nicht ständig auf sich aufmerksam machen muss, sondern leise und zugleich souverän zum Tragen kommt, wenn sich die Stürme nähern. Sie liegt so tief und versteckt in uns vergraben, dass wir sie manchmal einfach so vergessen und ihr somit weniger Beachtung schenken. So wie wir auch die Wurzeln der Bäume nicht sehen können. Und doch sollte man sich ihrer bewusst sein. Man nennt sie innere Stärke…